Univ. Prof. Dr. med. habil. Manfred Pohlen

Vita


Prof. Dr. Manfred Pohlen, Direktor emerit. der Klinik für Psychotherapie am Klinikum der Philipps Universität Marburg, Facharzt für Psychiatrie und Neurologie und für Psychotherapeutische Medizin, Psychoanalytiker/Lehranalytiker


Persönliche Vita

• Geboren 1930 in Ochtendung bei Koblenz

• Eltern kritische Katholiken; Vater Chirurg, Chefarzt eines katholischen Krankenhauses, Mitglied des

  rheinischen „Zentrums“ in der Weimarer Zeit unter Adenauer; beide Eltern in entschiedener Gegnerschaft

  zum Nationalsozalismus

• Besuch der Volkschule in Ochtendung, humanistisches Gymnasium in Koblenz, Abitur 1948

• 1¼ jährige Tätigkeit im Kohleuntertagebergbau an der Ruhr

• Studium der Philosophie und Medizin in Mainz, Bonn/Köln und Freiburg

• Medizinisches Staatsexamen 1956


Politische Tätigkeiten

In der studentischen Selbstverwaltung und anderen politischen Institutionen: Referent für Gesamtdeutsche Fragen im VDS in Berlin (50er Jahre), in nicht öffentlicher Zuständigkeit verantwortlich für die Unterstützung inhaftierter Studenten in der sowjetischen Besatzungszone und für eine Fluchtorganisation gefährdeter Studenten; öffentlich zuständig für eine innerdeutsche Politik mit den Studentenvertretungen der SBZ in Zusammenarbeit mit dem gesamtdeutschen Ministerium, Aktivität bei Amnesty International bis in die Marburger Zeit, Aufbau einer demokratischen Studentenorganisation (Bund demokratischer Studenten) als Gegenmodell fortlebender Nazibünde, stalinistischer Gruppen und gegen das Wiederaufleben nationalistischer Studentenvereinigungen in den 50er Jahren. Mehrjährige Mitgliedschaft und Tätigkeit in der SPD.


Medizinische/Klinische Tätigkeiten

Ab 1956 an städtischen Kliniken im Ruhrgebiet; sozialpsychiatrische Umorganisation eines psychiatrischen Großkrankenhauses (Porz/Ensen,Köln).

Ab 1960 psychiatrisch-neurologische Weiterbildung an der Universität Freiburg und Fortsetzung des Studiums der Philosophie.

Vertiefte Studien der Freudschen Psychoanalyse unter Prof. Schotte, Lacanianer (Universität Gent), Stiftungsprofessor an der Freiburger Psychiatrie. Unter der Leitung der Professoren H. Ruffin und H. Göppert Ausbildung in hermeneutisch fundierter Psychiatrie, in geisteswissenschaftlicher Auseinandersetzung der Psychopathologie der Psychosen, im Kontext des geistigen Austauschs der Klinik mit Martin Buber, Romano Guardini, Martin Heidegger und Ludwig Binswanger; in dieser Zeit neurologische Ausbildung unter Prof. Derwort, Vertreter der Schule Viktor von Weizsäckers an der Freiburger Neurologie.

1964 Facharztanerkennung für Psychiatrie und Neurologie in Freiburg.

Aufbau einer psychotherapeutischen Abteilung an der Psychiatrie Freiburg, Stellvertreter des Leiters, Prof. Dr. Göppert.

1966 Einjährige Mitarbeit an der Heidelberger Psychosomatik unter der Leitung von Alexander Mitscherlich zur Beendigung der in Freiburg aufgenommenen psychoanalytischen Ausbildung in Heidelberg und am Sigmund Freud Institut in Frankfurt.

Übertritt von der weltoffenen und kollegialen Wissenschaftssphäre der Freiburger hermeneutischen Psychiatrie zur autoritär-paranoiden Welt an der Heidelberger Klinik und dem Sigmund-Freud-Institut unter Mitscherlich und seiner Entourage: ein Kulturschock für den Anspruch auf eigenes Denken und freies Forschen.

In den 70er Jahren Anerkennung als Analytiker und Lehranalytiker durch die Professoren Anneliese Heigl-Evers und Franz Heigl am Göttinger Institut für Psychoanalyse und Tiefenpsychologie.

 

Wissenschaftlich - klinische Tätigkeit (1967 bis 1973), Leitung der Klinischen Abteilung, Stellvertretung des Direktors am Max-Planck-Institut für Psychotherapie und Psychopathologie in München, Prof. Paul Matussek, führender Wissenschaftler der Psychodynamischen Therapie, insbesondere der Psychotherapie und Psychoanalyse der Psychosen.

Ständige Mitarbeit am Internationalen Kollegium für Psychotherapie der Psychosen und den angeschlossenen Internationalen Symposien


Wissenschaftliche Vita

Promotion (1959), medizinische Dissertation an der Universität Bonn über „Nachkommen geisteskranker Elternpaare“, u.a. Zwillingspaare, Bestätigung einer epigenetischen Theorie statt einer erbbiologischen.

1970 Habilitation für Psychiatrie und Psychoanalyse am Max-Planck-Institut bzw. am Klinikum rechts der Isar München über „Gruppenanalyse – eine methodenkritische und empirische Studie im klinischen Feld“. Einführung empirischer klinischer Verlaufs- und Ergebnisforschung in die Psychoanalyse entsprechend den feldspezifischen Bedingungen der Klinik.

Empirisch überprüfte neue Anwendungsform gemeinsamer Therapie von Neurotikern und Psychotikern in spezifisch inhomogenen Gruppen als innovativer Ansatz einer psychodynamischen Psychiatrie; und empirische Feststellung der Ranggleichheit in der therapeutischen Wirksamkeit von akademischen Therapeuten und der therapeutischen Aktivität des sogenannten Pflegepersonals und der Soziotherapeuten. Diese Enthierarchisierung und Demokratisierung der medizinischen Arbeitswelt wird bis heute unterdrückt, weil ein medizinisch-industrieller Komplex, von pharmazeutischer und medizinischer Geräte-Industrie mit dem medizinischen Apparat, beherrschend geworden ist, der Klinik, Lehre und Forschung total okkupiert. Den Vertretern von Medizin und Psychatrie ist ein unangreifbar erscheinendes manipulatives Instrument technisch pharmakologischer Einflussnahme zur Normalisierung des Anormalen zur Verfügung gestellt, das dem Menschen den Trug suggerieren kann, durch Unterwerfung unter dieses Zwangssystem frei zu werden vom individuellen Anderssein. Tatsächlich zum Objekt des Systems gemacht, lebt der Kranke in dem falschen Selbstbewusstsein von Freiheit als Unterdrückung seines Andersseins.

Nach der Habilitation mehrjähriger Vertreter des Lehrstuhlinhabers für Psychiatrie rechts der Isar München.

1972 Berufung an den Lehrstuhl für Psychotherapie am Universitätsklinikum Marburg.

1973 Aufnahme der Tätigkeit am Marburger Klinikum und Weiterführung der Forschung in klinischer Psychotherapie und Psychoanalyse.

Aufbau eines Modells für strukturierte psychotherapeutische Arbeit im Klinischen Feld; in Fortführung des am Max-Planck-Institut in München entwickelten Kooperationsmodells ("Münchener Kooperationsmodell") zur Organisation und Koordinierung gleichberechtigter therapeutischer Aktivitäten der verschiedenen Therapieansätze des klinischen Personals. Die Darstellung dieser Arbeit zur Grundlegung einer allgemeinen klinischen-psychotherapeutischen Organisationsstruktur findet sich in:

Eine Andere Psychodynamik – Psychotherapie als Programm zur Selbstbemächtigung des Subjekts (2001/2002) (Pohlen/Bautz-Holzherr).

Aufbau von sexualtherapeutischen Ambulanzen zusammen mit Dr. Margarethe Bautz-Holzherr, insbesondere für sexuelle Identitätsstörungen bzw. emanzipatorische Konflikte bei Frauen und zusammen mit Dr. Ernst L. Kauss Einrichtung einer andrologischen Ambulanz für Sexual- und Identitätsstörungen bei Männern.


Spezialgebiete von Manfred Pohlen

Klinische Behandlung von Transsexuellen mit Verlaufs- und Ergebniskontrollen in einem besonderen psychoanalytisch/verhaltenstherapeutischen Ansatz.

Einrichtung psychodynamisch-strukturierter Sporttherapie unter Leitung von Sporttherapeuten, insbesondere für die Behandlung von depressiven Erkrankungen.

Ambulante Nachbehandlung durch psychodynamische Soziotherapie in Form einer Behandlungskette durch Sozialarbeiter in Verbindung mit dem psychotherapeutischen Personal der Poliklinik.

Aufbau einer Weiterbildungsstätte für den Erwerb des Zusatztitels „Psychotherapie für Mediziner“ und Aus- und Weiterbildung für Psychologen im Rahmen der Weiterbildung zum Psychologischen Psychotherapeuten. Vermittlung allgemein psychotherapeutischer Erfahrung und Grundlagenwissen in Psychoanalyse und Verhaltenstherapie mit begleitender Supervision klinischer Fallarbeit.

Aufbau einer Weiterbildungsstätte für die psychotherapeutische Weiterbildung des Krankenpflegepersonals in Psychotherapie, Psychosomatik und Psychiatrie zum Erwerb des Fachkrankenpflegers/-pflegerin, mit Förderung durch das Hessische Sozialministerium und staatliche Anerkennung des Curriculums – bundesweit wegweisende Weiterbildung des Pflegepersonals zur gleichberechtigten klinischen Arbeit mit den akademischen Sozio- und Psychotherapeuten.

Einrichtung einer studentischen Beratungsstelle für Persönlichkeits- und studienbedingte Konflikte mit paar- und familientherapeutischem Ansatz und institutioneller Einbeziehung.


Begründung einer kritischen Theorie der Psychoanalyse

70er/80er Jahre: Öffentliches Seminar zur kritischen Theorie, zur Grundlegung der Psychoanalyse als Aufklärungswissenschaft in Auseinandersetzung mit Reich, Marx, Adorno, Marcuse und Anderen, insbesondere mit einer anderen gesellschafts- und subjektkritischen Lesart Freuds und der Interpretation der französischen Dekonstruktivisten Foucault, Derrida, Lacan, Deleuze-Guattari und Anderen.

Das Seminar „Kritische Psychoanalyse“ war das Zentrum in der Auseinandersetzung des kritischen Zeitgeistes und vermittelte Psychologen, Pädagogen, Theologen, Philologen, Juristen, Studenten der Linguistik und der Literaturwissenschaften, auch Medizinern eine sog. zweite Sozialisation, wie es ein bekannter Literaturwissenschaftler, ehemaliger Teilnehmer am Seminar, in der FAZ beschrieb: durch die Schule kritischer Reflexivität ein neues Bewusstsein ihrer selbst, ihrer geschichtlichen Situation und der politischen Verantwortung für das deutsche Problem nationalsozialistischer Gewalt innezuwerden. Das Seminar wurde unter der Leitung von Dr. Bautz-Holzherr über 10 Jahre transkribiert, aber bisher zur Veröffentlichung nicht freigegeben. Die Begeisterungsfähigkeit dieser Studentengeneration für das Nach-Denken ihrer geschichtlichen und weltanschaulichen Situation im Kontext ihrer Mitläuferfamilien, die Lust dieser „68er“ an der Denkfreiheit, alles zu Durch-Denken, ihre emanzipatorische Experimentierlust, ist heute nicht mehr denkbar. Diese intellektuelle Gruppe der sogenannten 68er Bewegung, die Adorno's Bestimmung der Universität als Ort des Widerspruchsdenkens zum Ziel ihrer Denkarbeit machte und nicht jene von Politagitatoren, die mit ein paar Zitaten von Karl Marx angetreten waren, um die Versorgungstöpfe der staatlichen Institutionen zu erobern, ist wegen des ganzen verlogenen Spektakels um die 68er, gerade auch um die RAF, vergessen worden, vergessen gemacht worden.

Die Erinnerungsarbeit aus Sicht eines begeisterten Hochschullehrers über den Enthusiasmus eines neuen Denkens dieser Generation und den gesellschaftlichen Rückzug ihrer intellektuellen Protagonisten möchte ich noch zu Wege bringen.

 

Arbeiten zur Grundlagenforschung in Psychoanalyse und Psychotherapie

Vielfältige innovative klinische und empirische Arbeiten in Fortführung der experimentierenden Tradition von Reich, Groddek, Ferenczi, Federn u.a.; wissenschafts- und kulturtheoretische Veröffentlichungen, methoden- und erkenntniskritische Arbeiten zum klinischen und Wissenschaftscharakter von Psychoanalyse.

 

Veröffentlichungen zusammen mit Margarethe Bautz-Holzherr zur Selbstaufklärung der Psychoanalyse:

„Eine andere Aufklärung – das Freudsche Subjekt in der Analyse“ (Suhrkamp 1991 / 2001); Psychoanalyse als Aufklärungswissenschaft vom Anderen der Vernunft.

“Psychoanalyse - das Ende einer Deutungsmacht“ (rowohlts enzyklopädie 1995). Wissenschaftstheoretische und ideologiekritische Analyse des Wissenskorpus der Psychoanalyse.

„Eine andere Psychodynamik – Psychotherapie als Programm zur Selbstaufklärung des Subjekts“, (Huber 2001/2002); Grundlegung einer innovativen psychodynamischen Praxistheorie auf der Basis des in Jahrzehnten gewonnenen Erfahrungswissens.

 

„Freuds Analyse – die Sitzungsprotokolle Ernst Blums von 1922“ (Manfred Pohlen, 2006 Erstveröffentlichung Rowohlt, 2008 Zweitveröffentlichung) enthält das einzige Protokoll einer Analyse bei Sigmund Freud, dem Begründer der Psychoanalyse. Unmittelbar nach den Sitzungen im Jahr 1922 notierte Ernst Blum deren Verlauf mit Zustimmung Freuds. Von keinem anderen Analysanden ist ein vergleichbares Dokument überliefert. Freuds Vorgehen in dieser Analyse gibt Einblick in das Fundament seines psychoanalytischen Denkens und ist von großer Bedeutung für die Ideen- und Kulturgeschichte der Psychoanalyse: ein einzigartiges Dokument Freudschen Denkens und Wirkens, von Manfred Pohlen auf dem kulturhistorischen Hintergrund einer antisemitischen Zeitgeschichte umfassend interpretiert.

Bisher neben der deutschen Ausgabe in Französisch, Italienisch, erschienen und demnächst in Rumänisch.

Zahllose Vorträge an Universitäten im In- und Ausland, Gastprofessur an der Donau-Universität Krems.

 

In Vorbereitung: „Von einem enteigneten Land und seinen verstörten Bürgern“: eine kritische psychoanalytische Studie zu den gesellschaftlichen und sozialen Verhältnissen in der Bundesrepublik mit Schwerpunkt auf einer tiefenpsychologischen Machtanalytik

Erscheint voraussichtlich Ende 2017/Anfang 2018.